Dienstag, 3. Januar 2012

Buchvorstellung "GRIMM" von Christoph Marzi und eine paar philosophische Gedanken

Als ich klein war, liebte ich Märchen: Dornröschen, Rapunzel, Hänsel und Gretel, Frau Holle, Rotkäppchen. Von meiner Patentante bekam ich als kleines Kind zu Weihnachten ein Buch mit den bekanntesten Märchen der Gebrüder Grimm oder Hans Christian Andersens.
Ich würde behaupten, es ist das älteste Buch, das im Moment in meinem Besitz ist. Vor einigen Monaten nahm ich das Buch wieder in die Hand und begann einige der Lieblingsmärchen aus meiner Kindheit zu lesen.

Heute anders als damals, denn als Kind war diese Märchenwelt eine mit guten und bösen Charakteren, wie unschuldige Kinder oder Prinzessinnen auf der einen und Wölfe oder Hexen auf der anderen Seite. Eine klare Trennung, schwarz und weiß, keine Schattierungen ins graue. Die Märchen gingen immer gut aus, die Guten hatten immer gesiegt, die böse Hexe wurde verbrannt oder der böse Wolf getötet.

Doch wenn nun diese Fabel- und Märchenwesen, wie der Wolf oder die Hexe aus unseren kindlichen Albträumen wahr würden, wenn diese Figuren mitten unter uns lebten oder sogar böses mit uns im Schilde führten? Wenn es nicht, wie wie im Märchen, ein Happy End gäbe, sondern die Bösen die Oberhand behielten?

„Grimm“ von Christoph Marzi



Ein packendes und spannendes Buch zu schreiben gelingt nicht immer, doch diese, fast 600, Seiten vollbringen dies. Es ist schwer, darüber nun eine Zusammenfassung zu schreiben, will man doch nicht zu viel verraten, aber auch den Leser meines Blogs ansprechen das Buch vielleicht lesen zu wollen.

So begeben wir uns erst einmal in die Szenerie zu Anfang des Buches und versuchen eine kurze Einführung der Familienverhältnisse zu schaffen.

Vesper Gold, eine 17-jährige Schülerin, die gerade mit ihrer Mutter von Berlin nach Hamburg gezogen ist, hält nicht besonders viel von der Schule oder dem Unterricht. Sie arbeitet lieber in einem kleinen Theater als Schneiderin und Kostümbildnerin, fühlt sich viel wohler bei den Theaterspielern, als in der Schule, mit den arroganten Mitschülern. (Vesper wirkt schon auf den ersten Seiten sympathisch, sie ist nicht die, die sich mit Schicki-Micki Mädchen abgibt, sie ist, für ihre 17 Jahre bereits sehr reif und verfügt über einen klasse Musikgeschmack, dies sei aber nur am Rande erwähnt)

Vesper ist ein Scheidungskind, ihre Eltern, Margo, eine erfolgreiche Konzertpianistin und Maxime, ein Regisseur, haben nicht besonders viel Zeit für ihre Tochter. Mit ihren Eltern verbindet Vesper eine Art Hassliebe, so sehr sie ihre Eltern liebt, so schnell bekommt sie sich mit ihrer Mutter in die Haare. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass sie bereits wenige Tage aus der Hamburger Villa ihrer Mutter ausgezogen ist, um eine eigene Wohnung zu beziehen.
Vespers ältere Schwester, ihre einzige Vertraute, die ihr früher als Kind immer die Märchen erzählte, lebt nicht mehr, sie hat sich selber umgebracht, die Gründe hierfür liegen zunächst im Dunkeln.

Ziemlich schnell wird in diesem Buch klar, dass nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen ist und nicht alles so zu sein scheint, wie wir es uns denken.


Vesper verliert innerhalb eines Tages beide Elternteile auf mysteriöse Art und Weise, es geschehen komische Dinge, alle Kinder in Europa fallen zunächst in einen kurzen Tiefschlaf, es werden Wölfe  in einer Großstadt gesichtet, Vesper wird von einem seltsamen Mann beobachtet und verfolgt und schließlich von einer Mischung aus Mensch und Wolf gejagt. Alles scheint nicht besonders real, und doch ist das, was Vesper gesehen hat, wirklich geschehen.

Als sie dann von ihrem verstorbenen Vater einen Ring, einen Schlüssel und den Namen eines Mannes, der ihr alles erklären kann, zugeschickt bekommt, weiß Vesper, dass Dinge geschehen, die die Welt verändern werden und doch liegt noch vieles für sie, und auch den Leser, im Unklaren.

Vesper erhofft sich nun die versprochene Hilfe, doch die Dinge laufen nicht, wie sie sollen, und plötzlich sehen sich Vesper und ein weiteres Waisenkind, Leander Nachtsheim, im Kampf gegen die Menschenwölfe und anderer Fabel- und Märchenwesen aus der Kindheit gegenüber.

Vesper und Leander tauchen nun ein in eine Welt, in der sich Sagen- und Märchenfiguren, die Mythen, in die reale Welt drängen und mit Gewalt versuchen, die Menschen wieder an sie glauben zu lassen. Die Kinder fallen endgültig in einen tiefen „Dornröschenschlaf“, Menschen verschwinden hinter Spiegeln und sind dort gefangen und nur Vesper, Leander und eine dritte Person, Jonathan Andersen können etwas dagegen tun und die Menschen retten.

Auf der Suche nach einer Lösung gelangen sie in den Harz und in die Märchenwelt, die gar nicht so idyllisch zu sein scheint, und schließlich kommen sie des Rätsels Lösung ganz nahe.

Kann es ein Happy End geben? Können die Kinder und Menschen aus den Klauen der Mythen befreit werden? Und ist alles immer so, wie wir es gerne hätten?

Es war einmal, so fangen die meisten Märchen an, ob sie nun gut ausgehen, oder doch ein trauriges Ende haben und einen darüber Nachdenken lassen, was geschehen ist. Dieses Buch ist zwar kein Märchen, aber der Autor schafft es, die Märchenwelt lebendig werden zu lassen.


An keiner Stelle des Buches wird es langweilig, langatmig oder uninteressant, an keiner Stelle kitschig oder kindisch. Man will und kann es nicht mehr aus der Hand legen, da man wissen möchte, wie es weiter geht, wie sich die zarte Bande um  Vesper und Leander weiter spinnt, wie und ob sie eine Lösung finden und wie sie in der Märchenwelt zurecht kommen.

Das Buch schafft es spannend zu sein und einen gleichzeitig an einigen Stellen zu Tränen zu rühren, nicht zuletzt durch den Schreibstil des Autors. (siehe Zitate)

Ein perfektes Buch für die aktuelle Jahreszeit, wenn es draußen kalt ist und früh dunkel wird.

DANKE an meine Cousine VALE, die mir das Buch ausgeliehen hat!

Meine liebsten Zitate aus dem Buch:

S. 50

»Mama hat mir gesagt, dass man nicht wirklich erkennen kann, dass ein Wolf in einem Mann ist.« Vesper spürte ein Frösteln tief in ihrem Herzen. Irgendwie erfüllte sie dieser Satz mit einer unbestimmten Panik. [...]»Wölfe sehen nämlich wie Menschen aus«, erklärte die Kleine und wirkte so unschuldig dabei.“

S. 225
In dem Märchenbuch aus ihrer Kindheit war eine Zeichnung gewesen, oder vielmehr eine Radierung. Ein schwarzer Fleck nur, nicht mehr, darunter stand geschrieben: Dies ist die rabenschwarze Nacht. Vesper hatte gewusst, dass es Dinge gab, die in dieser rabenschwarzen Nacht lebten. Sie hatte sich vor diesem Bild gefürchtet und ihren Vater gebeten, schnell weiterzublättern, wenn sich die Seite näherte. Und jetzt war es hier: das Wesen, das all die Jahre über in der rabenschwarzen Nacht gelebt hatte.“

S. 249
Wie ein argloses Flüstern, schneeweiß und weich, hatte sich heimlich während der vergangenen Stunde gar lautlos der wirkliche Winter über die eisige Welt gelegt, und die bedrohlichen Geräusche, die wie dunkle Lieder in der Nacht waren, wurden sorgsam von den dicken Schneeflocken, die, getragen von kleinen Wirbelwinden, ihre Tänze aufführten, gedämpft.“

S. 316
Der Schnee fiel in dichten Flocken und verschlang sämtliche Geräusche. Die Welt schien den Atem anzuhalten, jedermann spürte es, dich niemand wusste es; niemand wusste, was anders war als sonst. Niemand ahnte, was heimlich und böse im Verborgenen lauerte.“

S. 326
Wie im Märchen waren sie einander vertraut, und keiner von ihnen schaute zurück, und keiner schaute nach vorn. Die Nacht wurde unverhofft und plötzlich zu nur diesem einen hellen Augenblick, der ganz hier und ganz jetzt war. Auch Leander schwieg. Stumm sah er sie an, und dann ließ er sich von ihr küssen, erst langsam und zögerlich. […] Es war das, was sie jetzt und hier tun sollten. Denn Vesper konnte nichts mehr sagen,und auch Leander hatte alle seine Worte bereits aufgebraucht. Wie wehende Tücher auch leuchtendem Weiß im Wind, so schliefen sie schließlich ein. Nicht ahnend, wie schon und wie endlos die Nacht sein kann, wenn sie gerade erst über die Welt gekommen ist.“

S. 403
Der Augenblick, in dem die Dämonen der Vergangenheit auf die unklaren Geister kommender Tage treffen, ist zuweilen jener Moment der einen durch die Tränen im Herzen an Wunder glauben lässt.“

S. 435
Und denkt euch die Welt, wie sie schal ist und leer ohne Kinderlachen.“

S. 549
»Wahre Liebe«, hörte Vesper sie wispern»geht über denen Tod hinaus.«“

S. 553
Vesper starrte ihn an. Die Welt, dachte sie, ist kompliziert und doch so klar und einfach. Unglück gebiert Hass, und Unverständnis bringt den Tod. Es ist ein Kreis, dem kaum ein Wesen entrinnen kann.“


Meine Empfehlung: KAUFEN!!

Gibt es hier: Amazon und Weltbild

Zwei Hypothesen (zum weiterspinnen der Geschehnisse):

1)Was, wenn wir nun heute an Märchen, an die Figuren, die darin vorkommen, glaubten? Würden die Mythen real werden? Wie würde sich unsere Welt verändern?
Gibt es dann in dieser Hinsicht Wahrheit oder Lüge? Könnten die Mythen unter uns leben?
Wäre unsere Welt friedlicher oder einfacher, wenn wir an Märchen und Mythen glaubten?
Wenn wir unseren Gefühlen trauten und an Magie glaubten, im Gegensatz zur Wissenschaft und Vernunft? Könnten wir es uns heute überhaupt leisten, die Vernunft und Wissenschaft links liegen zu lassen und zu kindlichen Vorstellungen zurück zu kehren, mit der Erkenntnis, das Märchen real wären? Wenn wir uns vor der Zeit der Aufklärung befänden, in der die Menschen noch glaubten, dann aber anfingen, alles zu hinterfragen, alles wissen zu wollen, den Mythen keinen Platz mehr einzuräumen, die Natur beherrschen zu wollen. (Dabei stellt sich die Frage, ob wir die Natur überhaupt beherrschen können, oder ob das nur unser Glaube und unser Wunsch ist) Aber wir wollen eine geordnete Welt, ohne Rätsel und Geheimnisse mit klaren Strukturen, nichts bleibt mehr im Verborgenen.

2)Welches Ausmaß hat eigentlich der Hass? Können wir, wenn unser Herz erfriert und starr im Eis liegt, nicht mehr lieben und können wir dann nur noch hassen und uns das Böse und Schlechte in die Welt wünschen? Würden wir unschuldige Menschen und Kinder töten, nur um uns an einigen Menschen/Personen zu rächen?
Wollen wir Menschen vielleicht sogar lieber hassen als lieben und macht uns der Hass blind für alles andere und die Sorgen und Nöte der anderen Menschen?

„Ich glaube, dass die Menschheit nur ein Ziel hat: das Leid“ Gustave Flaubert


Ist es so, wie Flaubert vermutet, dass wir Menschen nicht anders können und uns in vollem Bewusstsein klar darüber sind, dass wir anderen Leid und Elend zufügen, oder ist es vielmehr eine Schlussfolgerung, dass bei unserem Handeln gar nichts anderes heraus kommen kann, als das Leid, wir uns aber vielleicht gar nicht darüber im Klaren sind, was wir tun?


Menschen sind Menschen, manchmal gar nicht anders als der böse und hinterlistige Wolf oder die Hexe. Märchen können ein Spiegel unserer selbst sein, was wir werden, entscheiden wir selbst.


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