Ich würde behaupten, es ist das älteste Buch, das im Moment in meinem Besitz ist. Vor einigen Monaten nahm ich das Buch wieder in die Hand und begann einige der Lieblingsmärchen aus meiner Kindheit zu lesen.
Heute anders als damals, denn als Kind
war diese Märchenwelt eine mit guten und bösen Charakteren, wie
unschuldige Kinder oder Prinzessinnen auf der einen und Wölfe oder
Hexen auf der anderen Seite. Eine klare Trennung, schwarz und weiß, keine Schattierungen ins graue. Die Märchen gingen immer gut aus, die
Guten hatten immer gesiegt, die böse Hexe wurde verbrannt oder der
böse Wolf getötet.
Doch wenn nun diese Fabel- und
Märchenwesen, wie der Wolf oder die Hexe aus unseren kindlichen
Albträumen wahr würden, wenn diese Figuren mitten unter uns lebten
oder sogar böses mit uns im Schilde führten? Wenn es nicht, wie wie
im Märchen, ein Happy End gäbe, sondern die Bösen die Oberhand
behielten?
„Grimm“ von Christoph Marzi
Ein packendes und spannendes Buch zu schreiben gelingt nicht immer, doch diese, fast 600, Seiten vollbringen dies. Es ist schwer, darüber nun eine Zusammenfassung zu schreiben, will man doch nicht zu viel verraten, aber auch den Leser meines Blogs ansprechen das Buch vielleicht lesen zu wollen.
So begeben wir uns erst
einmal in die Szenerie zu Anfang des Buches und versuchen eine kurze
Einführung der Familienverhältnisse zu schaffen.
Vesper Gold, eine 17-jährige
Schülerin, die gerade mit ihrer Mutter von Berlin nach Hamburg
gezogen ist, hält nicht besonders viel von der Schule oder dem
Unterricht. Sie arbeitet lieber in einem kleinen Theater als
Schneiderin und Kostümbildnerin, fühlt sich viel wohler bei den
Theaterspielern, als in der Schule, mit den arroganten Mitschülern. (Vesper wirkt schon auf den ersten Seiten sympathisch, sie ist nicht die, die sich mit Schicki-Micki Mädchen abgibt, sie ist, für ihre 17 Jahre bereits sehr reif und verfügt über einen klasse Musikgeschmack, dies sei aber nur am Rande erwähnt)
Vesper ist ein
Scheidungskind, ihre Eltern, Margo, eine erfolgreiche
Konzertpianistin und Maxime, ein Regisseur, haben nicht besonders
viel Zeit für ihre Tochter. Mit ihren Eltern verbindet Vesper eine
Art Hassliebe, so sehr sie ihre Eltern liebt, so schnell bekommt sie
sich mit ihrer Mutter in die Haare. Daher ist es auch nicht
verwunderlich, dass sie bereits wenige Tage aus der Hamburger Villa
ihrer Mutter ausgezogen ist, um eine eigene Wohnung zu beziehen.
Vespers ältere Schwester,
ihre einzige Vertraute, die ihr früher als Kind immer die Märchen
erzählte, lebt nicht mehr, sie hat sich selber umgebracht, die
Gründe hierfür liegen zunächst im Dunkeln.Ziemlich schnell wird in diesem Buch klar, dass nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen ist und nicht alles so zu sein scheint, wie wir es uns denken.
Vesper verliert innerhalb
eines Tages beide Elternteile auf mysteriöse Art und Weise, es
geschehen komische Dinge, alle Kinder in Europa fallen zunächst in einen
kurzen Tiefschlaf, es werden Wölfe in einer Großstadt
gesichtet, Vesper wird von einem seltsamen Mann beobachtet und
verfolgt und schließlich von einer Mischung aus Mensch und Wolf
gejagt. Alles scheint nicht besonders real, und doch ist das, was
Vesper gesehen hat, wirklich geschehen.
Als sie dann von ihrem
verstorbenen Vater einen Ring, einen Schlüssel und den Namen eines
Mannes, der ihr alles erklären kann, zugeschickt bekommt, weiß
Vesper, dass Dinge geschehen, die die Welt verändern werden und doch
liegt noch vieles für sie, und auch den Leser, im Unklaren.
Vesper erhofft sich nun die versprochene Hilfe,
doch die Dinge laufen nicht, wie sie sollen, und plötzlich sehen
sich Vesper und ein weiteres Waisenkind, Leander Nachtsheim, im Kampf
gegen die Menschenwölfe und anderer Fabel- und Märchenwesen aus der
Kindheit gegenüber.
Vesper und Leander tauchen
nun ein in eine Welt, in der sich Sagen- und Märchenfiguren, die
Mythen, in die reale Welt drängen und mit Gewalt versuchen, die
Menschen wieder an sie glauben zu lassen. Die Kinder fallen endgültig
in einen tiefen „Dornröschenschlaf“, Menschen verschwinden
hinter Spiegeln und sind dort gefangen und nur Vesper, Leander und
eine dritte Person, Jonathan Andersen können etwas dagegen tun und die Menschen retten.
Auf der Suche nach einer
Lösung gelangen sie in den Harz und in die Märchenwelt, die gar
nicht so idyllisch zu sein scheint, und schließlich kommen sie des
Rätsels Lösung ganz nahe.
Kann es ein Happy End geben?
Können die Kinder und Menschen aus den Klauen der Mythen befreit
werden? Und ist alles immer so, wie wir es gerne hätten?
Es war einmal, so fangen die meisten Märchen an, ob sie nun gut ausgehen, oder doch ein trauriges Ende haben und einen darüber Nachdenken lassen, was geschehen ist. Dieses Buch ist zwar kein Märchen, aber der Autor schafft es, die Märchenwelt lebendig werden zu lassen.
An keiner Stelle des Buches
wird es langweilig, langatmig oder uninteressant, an keiner Stelle
kitschig oder kindisch. Man will und kann es nicht mehr aus der Hand
legen, da man wissen möchte, wie es weiter geht, wie sich die zarte Bande
um Vesper und Leander weiter spinnt, wie und ob sie eine Lösung finden und wie
sie in der Märchenwelt zurecht kommen.
Das Buch schafft es spannend
zu sein und einen gleichzeitig an einigen Stellen zu Tränen zu
rühren, nicht zuletzt durch den Schreibstil des Autors. (siehe
Zitate)
Ein perfektes Buch für die
aktuelle Jahreszeit, wenn es draußen kalt ist und früh dunkel wird.
DANKE an meine Cousine VALE, die mir das Buch ausgeliehen hat!
Meine liebsten Zitate aus dem Buch:
S. 50
„»Mama hat mir gesagt, dass man nicht wirklich erkennen kann, dass ein Wolf in einem Mann ist.« Vesper spürte ein Frösteln tief in ihrem Herzen. Irgendwie erfüllte sie dieser Satz mit einer unbestimmten Panik. [...]»Wölfe sehen nämlich wie Menschen aus«, erklärte die Kleine und wirkte so unschuldig dabei.“
S.
225
„In
dem Märchenbuch aus ihrer Kindheit war eine Zeichnung gewesen, oder
vielmehr eine Radierung. Ein schwarzer Fleck nur, nicht mehr,
darunter stand geschrieben: Dies
ist die rabenschwarze Nacht. Vesper
hatte gewusst, dass es Dinge gab, die in dieser rabenschwarzen Nacht
lebten. Sie hatte sich vor diesem Bild gefürchtet und ihren Vater
gebeten, schnell weiterzublättern, wenn sich die Seite näherte. Und
jetzt war es hier: das Wesen, das all die Jahre über in der
rabenschwarzen Nacht gelebt hatte.“
S.
249
„Wie
ein argloses Flüstern, schneeweiß und weich, hatte sich heimlich
während der vergangenen Stunde gar lautlos der wirkliche Winter über
die eisige Welt gelegt, und die bedrohlichen Geräusche, die wie
dunkle Lieder in der Nacht waren, wurden sorgsam von den dicken
Schneeflocken, die, getragen von kleinen Wirbelwinden, ihre Tänze
aufführten, gedämpft.“
S.
316
„Der
Schnee fiel in dichten Flocken und verschlang sämtliche Geräusche.
Die Welt schien den Atem anzuhalten, jedermann spürte es, dich
niemand wusste es; niemand wusste, was anders war als sonst. Niemand
ahnte, was heimlich und böse im Verborgenen lauerte.“
S.
326
„Wie
im Märchen waren sie einander vertraut, und keiner von ihnen schaute
zurück, und keiner schaute nach vorn. Die Nacht wurde unverhofft und
plötzlich zu nur diesem einen hellen Augenblick, der ganz hier und
ganz jetzt war. Auch Leander schwieg. Stumm sah er sie an, und dann
ließ er sich von ihr küssen, erst langsam und zögerlich. […] Es
war das, was sie jetzt und hier tun sollten. Denn Vesper konnte
nichts mehr sagen,und auch Leander hatte alle seine Worte bereits
aufgebraucht. Wie wehende Tücher auch leuchtendem Weiß im Wind, so
schliefen sie schließlich ein. Nicht ahnend, wie schon und wie
endlos die Nacht sein kann, wenn sie gerade erst über die Welt
gekommen ist.“
S.
403
„Der
Augenblick, in dem die Dämonen der Vergangenheit auf die unklaren
Geister kommender Tage treffen, ist zuweilen jener Moment der einen
durch die Tränen im Herzen an Wunder glauben lässt.“
S.
435
„Und
denkt euch die Welt, wie sie schal ist und leer ohne Kinderlachen.“S. 549
„»Wahre Liebe«, hörte Vesper sie wispern»geht über denen Tod hinaus.«“
S.
553
„Vesper
starrte ihn an. Die Welt, dachte sie, ist kompliziert und doch so
klar und einfach. Unglück gebiert Hass, und Unverständnis bringt
den Tod. Es ist ein Kreis, dem kaum ein Wesen entrinnen kann.“ Meine Empfehlung: KAUFEN!!
1)Was, wenn wir nun heute an
Märchen, an die Figuren, die darin vorkommen, glaubten? Würden die
Mythen real werden? Wie würde sich unsere Welt verändern?
Gibt es dann in dieser
Hinsicht Wahrheit oder Lüge? Könnten die Mythen unter uns leben?
Wäre unsere Welt friedlicher oder einfacher, wenn wir an Märchen und Mythen glaubten?
Wenn wir unseren Gefühlen trauten und an Magie glaubten, im Gegensatz zur Wissenschaft und Vernunft? Könnten wir es uns heute überhaupt leisten, die Vernunft und Wissenschaft links liegen zu lassen und zu kindlichen Vorstellungen zurück zu kehren, mit der Erkenntnis, das Märchen real wären? Wenn wir uns vor der Zeit der Aufklärung befänden, in der die Menschen noch glaubten, dann aber anfingen, alles zu hinterfragen, alles wissen zu wollen, den Mythen keinen Platz mehr einzuräumen, die Natur beherrschen zu wollen. (Dabei stellt sich die Frage, ob wir die Natur überhaupt beherrschen können, oder ob das nur unser Glaube und unser Wunsch ist) Aber wir wollen eine geordnete Welt, ohne Rätsel und Geheimnisse mit klaren Strukturen, nichts bleibt mehr im Verborgenen.
2)Welches Ausmaß hat eigentlich der
Hass? Können wir, wenn unser Herz erfriert und starr im Eis liegt,
nicht mehr lieben und können wir dann nur noch hassen und uns das
Böse und Schlechte in die Welt wünschen? Würden wir unschuldige
Menschen und Kinder töten, nur um uns an einigen Menschen/Personen
zu rächen?
Wollen wir Menschen
vielleicht sogar lieber hassen als lieben und macht uns der Hass
blind für alles andere und die Sorgen und Nöte der anderen
Menschen?„Ich glaube, dass die Menschheit nur ein Ziel hat: das Leid“ Gustave Flaubert
Ist es so, wie Flaubert vermutet, dass wir Menschen nicht anders können und uns in vollem Bewusstsein klar darüber sind, dass wir anderen Leid und Elend zufügen, oder ist es vielmehr eine Schlussfolgerung, dass bei unserem Handeln gar nichts anderes heraus kommen kann, als das Leid, wir uns aber vielleicht gar nicht darüber im Klaren sind, was wir tun?
Menschen sind Menschen, manchmal gar nicht anders als der böse und hinterlistige Wolf oder die Hexe. Märchen können ein Spiegel unserer selbst sein, was wir werden, entscheiden wir selbst.
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